Stoffentwicklung und Filmdramaturgie

Serienhighlights: The A-Word

„The A-Word“ ist eine britische Familienserie (BBC, 2016), aber nicht harmlos-heiter, wie man es von deutschen TV-Serien gewöhnt ist. Nicht harmlos, denn hier geht es um etwas. Familie Hughes muss feststellen, dass ihr fünfjähriger Sohn Joe nicht nur ein bisschen anders ist als die anderen Kinder im Dorf. Seine fehlenden sozialen Fähigkeiten, seine spärlichen Reaktionen, seine Schweigsamkeit – all das lässt sich nicht mehr länger verstecken. Bis zum ersten Mal das vor allem in den Ohren der Mutter böse „A-Word“ (Autismus) fällt, vergeht eine Weile. Denn die Eltern sind natürlich die letzten, die verstehen, was mit Joe los ist. Statt heiter ist der Humor in dieser Serie abgründig, eher von der Sorte: „Humor ist, wenn man trotzdem lacht“ (Wilhelm Busch).  Aber gerade das macht die Serie so unwiderstehlich.

 

„The A-Word“ ist eine Adaption der israelischen Serie „Yellow Peppers“ von Keren Margalit. Drehbuchautor Peter Bowker („Dr. Monroe“, ebenfalls absolut sehenswert!) hat selbst viele Jahre Kinder mit Lernschwierigkeiten betreut, er arbeitet gerne an Themen, die ihm am Herzen liegen. Und diese Authentizität merkt man der Serie in jeder Minute an.

Jede Folge beginnt mit dem immer gleichen Anfangsbild, der fünfjährige Joe geht mit Kopfhörern und einem Spielzeug in der Hand auf einer menschenleeren Straße, die durch eine raue, bergige Landschaft führt. Die Serie spielt im Lake District, in Cumbria. Diese karge und unwirtliche Landschaft bildet den dramatischen Background für die Serie und für die Entwicklung dieser Familiengeschichte.  Wir hören die Musik aus Joes Kopfhörern, oft einen seiner Lieblingssongs: „World, shut your mouth.“  Ein blauer Bulli kommt dem Kind entgegen und freundliche Menschen sammeln ihn auf und nehmen ihn mit zurück zum Haus seiner Eltern.

Die Musik und seine Kopfhörer haben eine existentielle Bedeutung für Joe. Joe kann alle Songs auswendig, er ist ein wandelndes Poplexikon. Sein Vater singt mit ihm und kann ihn beruhigen über die Songs, die sie gemeinsam so gut kennen. Die Kopfhörer sind sein Schutz gegen eine Welt, die er nicht versteht. Durch die Musik ist Joe mit der Welt verbunden und gleichzeitig schottet er sich ab, er hört die Geräusche der Welt nicht mehr und ist für sich.

Die Welt, das ist für den fünfjährigen Joe erst mal seine Familie.

Joes Mutter Alison ist schrecklich bemüht, aber sie begreift gar nichts, sie findet keinen Zugang zu ihrem Sohn. Sie hält es kaum aus, einen nicht „normalen“ Sohn zu haben. Sie zwingt Joe immer wieder zu Dingen, die ihn überfordern, und versucht ihn zu manipulieren. Ihr geht es immer nur um sich selbst, nicht wirklich um Joe. Sie kämpft wie eine Löwin, aber sie will vor allem, dass die anderen z.B. die Therapeutin oder Maya, die Babysitterin, für ihren Sohn da sind.

Joes Vater Paul hat einen Draht zu seinem Sohn gefunden, sie verbinden sich über die Musik, aber viel weiter geht sein Verständnis nicht, außerdem hat er noch ganz andere Sorgen. Er baut gerade sein eigenes Restaurant auf und überhebt sich dabei nicht nur finanziell.

Joes ältere Schwester Rebecca nimmt Joe, wie er ist, aber sie kommt in der Familie quasi nicht mehr vor, weil alles um Joe kreist.

Babysitterin Maya hat alles, was Joes Mutter nicht hat. Sie lässt ihn sein, wie er ist, sie findet eine eigene Sprache mit ihm. Als sie weggeht, wird das besonders deutlich: Sie spielt ihm ihre Musik vor und singt mit ihm, das ist ihr Abschied. Und der Blick der Mutter lässt ahnen, dass sie weiß, dass Maya etwas kann, was sie selbst nicht fertig bringt.

Joes Onkel Eddie ist gerade zurück aus der Großstadt, um die Familienbrauerei zu übernehmen, aber niemand traut ihm das wirklich zu. Als er zufällig die pubertierende Rebecca mit ihrem Freund erwischt, fühlt er sich fortan für sie verantwortlich, weil niemand sonst sich gerade interessiert für das, was sie macht.

Seine Frau Nicola hatte gerade eine Affäre mit einem anderen Mann, ihr Rückzug aufs Land ist auch ein Versuch, ihre Ehe zu retten. Sie ist Ärztin und die einzige, die Joe von Anfang an richtig einschätzt, was erst mal keiner hören will.

Joes Opa Maurice hat die Leitung der Brauerei abgegeben, funkt seinem Sohn Eddie aber immer noch dazwischen. Er liebt Joe, aber großes Einfühlungsvermögen ist nicht seine Sache. Er hatte seit dem Tod seiner Frau keinen Sex mehr, dafür geht er extrem viel joggen. Als er von seiner Musiklehrerin gefragt wird, ob er ihre sexuellen Bedürfnisse erfüllen kann, beginnt für ihn eine ganz neue Erfahrung.

In der dritten Folge kommt die neue Therapeutin von Joe, Maggie, in die Familie, um mit allen zu sprechen. Sie versammelt alle Familienmitglieder um einen Tisch. Und diese Gruppensitzung wird zum Ausgangspunkt für die weitere Entwicklung der Familie. Nicht Joe, sondern alle anderen Familienmitglieder geraten auf den Prüfstand und Maggie legt die verschütteten Konflikte bloß. Joes Onkel fasst das Ergebnis zusammen: „So if Joe is ever going to communicate, we need to learn how to communicate ourselves.“

Und das beschreibt den Kern der Serie: es geht darum, wie in Familien miteinander kommuniziert wird oder vor allem nicht oder aneinander vorbei kommuniziert wird. Und die Situation von Familie Hughes mit ihrem autistischen Sohn ist nur eine außergewöhnliche, überspitzte Variante von all dem, was auch im normalen Leben passiert. Die Kunst ist, dass es dieser Serie  gelingt, diese Besonderheit in etwas Normales zu verwandeln. Man braucht keine autistischen Kinder zu haben, um die Konflikte in dieser Familie nachzuvollziehen.

Ich habe die Serie zufällig in der Bremer Stadtbibliothek entdeckt, für alle Nicht-Bremer die gute Nachricht, dass die DVD für 10,27 € auf Amazon erhältlich ist. Allerdings nur im englischen Original, aber mit Untertiteln geht es! Die zweite Staffel wird jetzt gerade in England ausgestrahlt und erscheint hoffentlich bald auf DVD.

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