Stoffentwicklung und Filmdramaturgie

Monat: Mai 2017

Sieben Minuten nach Mitternacht

„Sieben Minuten nach Mitternacht“ erzählt die Geschichte des zwölfjährigen Connor O’Malley (Lewis MacDougall), ein Junge, „zu groß, um ein Kind zu sein und zu klein, um erwachsen zu sein“. Connor hat gerade einen Haufen Sorgen. Seine krebskranke Mutter (Felicity Jones) erholt sich immer schlechter von ihren Behandlungen. Sein Vater, der mit seiner neuen Familie in Amerika lebt, ist eine magere Unterstützung. Seine grantige Großmutter (Sigourney Weaver), auf die seine Mutter immer öfter angewiesen ist, nervt. Und nicht zuletzt sind da noch die drei Mitschüler in seiner Klasse, die ihm jeden Mittag nach Schulschluss auflauern. Bis eines Tages, sieben Minuten nach Mitternacht, ein Monster vor seinem Fenster steht, um ihn zu holen. Das Monster bietet ihm einen Deal an, drei Geschichten wird es ihm erzählen, die vierte Geschichte wird Connor selbst erzählen und das wird die Wahrheit sein. Connor ist alles andere als beeindruckt. Er hat keine Zeit für Geschichten und seine Alpträume, die ihn jede Nacht aufwachen lassen, sind schlimmer als jedes Monster. Doch irgendetwas bringt ihn dazu, sich auf das Monster einzulassen, und das ist das Beste, was ihm passieren kann.

 

„Sieben Minuten nach Mitternacht“  ist die Adaption des gleichnamigen Buches von Patrick Ness. Schon die Entstehungsgeschichte dieses Buches ist besonders. Patrick Ness hat das Buch geschrieben, aber Siobhan Dowd hatte die Idee. Die erfolgreiche Kinderbuchautorin hatte schon die Figuren, ein detailliertes Exposé und den Anfang der Geschichte, aber ihre Krebserkrankung verhinderte, dass sie dieses Buch selbst zu Ende schreiben konnte. Patrick Ness hat nach ihrem Tod mit diesem Material weiter gearbeitet. Entstanden ist ein wunderbares, berührendes Buch (2011), zu dem er selbst das Drehbuch geschrieben hat. Der spanische Regisseur Juan Antonio Bayona zeigt mit seiner kongenialen Verfilmung, wie ein Film aussieht, der Kinder und Jugendliche ernst nimmt mit ihren Gefühlen, ihrer Realität und ihrer Phantasie.

Der Film bleibt ganz bei Connor, auf seiner Augenhöhe, bei seiner Perspektive, und erzählt mit Respekt von den Emotionen des Jungen, der nicht akzeptieren will, dass seine Mutter sterben wird. In ihm steckt jede Menge Wut und Verzweiflung. Und wenn das Monster ihm Mut macht, etwas zu zerstören oder sich endlich gegen seine Mitschüler zu wehren, begreift er selbst (und wir als Zuschauer), was ihn umtreibt.

Regisseur Bayona gelingt es nicht zuletzt mit Hilfe der fantastischen Kamerabilder, der gelungenen Ausstattung und den kunstvoll animierten Geschichten, die das Monster erzählt, tief in die Phantasiewelt von Connor einzusteigen. Außerdem zeichnet Connor seine Phantasiegestalten, seine Alpträume und das Monster, genau wie seine Mutter. Auf diese Weise hat der Film eine Ebene mehr als das Buch und verrät, welche Rolle Kunst in dem Prozeß der Auseinandersetzung mit existentiellen Themen spielen kann. Die Glaubwürdigkeit und Authentizität der Figuren im Umgang mit Trauer, Abschied und dem Loslassen einer geliebten Person überzeugen jede Filmminute. Was dabei herauskommt, ist ein berührender Film über einen Jungen, der gezwungen wird, sich seinen Gefühlen zu stellen, die ihn zum Schluss zu seiner eigenen Wahrheit führen.

Seit 4. Mai 2017 läuft der Film (Originaltitel: „A monster calls“) in Deutschland. Ab 19. Oktober 2017 ist die DVD erhältlich. Von der Filmbewertung wurde er mit dem Prädikat: Besonders wertvoll ausgezeichnet.

 

 

 

 

 

Zehn Fragen an Jutta Reichelt

 

Jutta Reichelt ist Schriftstellerin, Bloggerin und Dozentin. Fast so gerne, wie selbst zu schreiben, unterstützt sie die Schreibprozesse anderer – ganz unabhängig davon, ob es sich um Fanfiction oder „ernste Literatur“ handelt. Zuletzt erschien der Roman: Wiederholte Verdächtigungen. Mehr über Jutta Reichelt unter: http://www.juttareichelt.com

 

Auf welchen Wegen oder Umwegen bist du zum Schreiben gekommen?

Ich habe erst mit Mitte zwanzig mit dem Schreiben begonnen – und obwohl ich weder Talent noch Erfahrung noch Ideen hatte, führte sehr bald kein Weg an der Erkenntnis vorbei, dass es das war, was ich von nun an in den Mittelpunkt meines Lebens stellen wollte. Dann begann die lange, lange Suche nach dem (halbwegs) gelungenen Text.

An welchem Projekt arbeitest Du gerade?

Ich habe gerade die Arbeit an einem „Schulhausroman“ mit einer Schulklasse aus Bremerhaven beendet: am 13. und 15. Juni wird er in Bremen (Wallsaal) und Bremerhaven (Pferdestall) präsentiert. Unter kräftiger Mitarbeit der jungendlichen Akteure schreibe ich gerade das Theaterstück „Ein Stück von mir“ für das Bonner Theater. Für meinen „Geschichten-Generator“ (Workshop, Festival, Bühne) entwickele ich unterschiedliche Einsatzmöglichkeiten – und in jeder freien Minute, die dann noch bleibt, schreibe ich an einem neuen Buch mit dem Arbeitstitel „Wie ich meine Lebensgeschichte (er)fand“.

Wie sieht ein vollkommener Arbeitstag für Dich aus?

Ich bin nicht unter Druck wegen irgendwelcher Projekte (s.o.) und kann mich an diesem Tag (und weil es ein vollkommener Tag sein soll) auch an den folgenden komplett auf mein eigenes Schreiben konzentrieren. Ich setze mich an den Schreibtisch und arbeite etwa drei Stunden. Vom Tag vorher ist noch Essen im Kühlschrank, das ich mir aufwärmen kann. Die Sonne scheint und ich setze mich zum Essen auf den Balkon. Wenn wirklich sehr gutes Wetter ist, fahre ich in den Garten und mache etwas, das ich auch dort gut machen kann (planen, plotten, lesen). Um 16.30 Uhr kommt meine Freundin von der Arbeit und wir trinken einen Tee – damit ist der Arbeitstag beendet.

Was wäre aus Dir geworden, wenn Du kein/e Autor/in geworden wärst?

Da ich das nicht als Entscheidung empfunden habe, die auch anders hätte ausfallen können, zu der es auch Alternativen gegeben hätte, kann ich das wirklich nicht beantworten.

Von wem oder durch was hast Du am meisten über das Schreiben gelernt?

Durch Lesen. Durch die sehr präzisen, sehr konstruktiven Rückmeldungen zunächst meines Bruders und später der zwei befreundeten Autorinnen Kerstin Becker und Ulrike Ulrich. Dadurch dass ich andere in ihren Schreibprozessen unterstütze.

Das beste Buch über das Schreiben?

Ach ja, an einem „alternativen Schreibratgeber“ schreibe ich auch seit Jahren, das hatte ich eben vergessen 😉 Die meisten Menschen, die in meine Kurse kommen, haben zwei Wünsche: mehr schreiben und besser schreiben. Mir ging es lange Zeit genauso. Weder mir noch den Teilnehmer.innen meiner Kurse haben Schreib-Ratgeber dabei entscheidend geholfen. Wenn Menschen mit dem Schreiben beginnen, benötigen sie nicht mehr Regeln und Vorschriften, sondern mehr Neugier und Mut, einfach mal loszulegen. Ich erlebe immer wieder, dass Teilnehmer.innen eine ursprünglich gute und originelle Idee dadurch beschädigen, dass sie „Regeln“ anwenden (Konflikt! Ziel! Antagonist!) statt die Geschichte „einfach“ nur so zu erzählen, dass sie Leser.innen findet – weil sie spannend ist (oder berührend oder klug oder einen besonderen Ton, eine überraschende Perspektive hat oder was auch immer). Wie das im Einzelfall zu erreichen ist, lässt sich (leider) immer nur im Einzelfall herausfinden (durch viel Schreiben und konstruktive, qualitativ hochwertige Rückmeldungen) – das ist meine Erfahrung sowohl mit meinen eigenen, wie mit fremden Texten. Wer in eine (halbwegs) mühelose Schreibpraxis gefunden hat und Texte schreiben möchte, die literarischen Ansprüchen genügen, der wird sicherlich einige erhellende Gedanken in „Die Kunst des Erzählens“ von James Wood finden. Ich habe auch auf meinem Blog darüber geschrieben.

Was tust Du außer Schreiben?

Vor allem leider ständig: Listen abarbeiten.

Dein aktuelles Lieblingsbuch?

Ein „Lieblingsbuch“ habe ich nicht und habe es auch nie gehabt. Ich kann aber gerne die zehn Bücher aufzählen, die ich gerade gerne in meiner Nähe habe (nach gefühltem Erscheinungsdatum rückwärts chronologisch):
„Die Fremde – ein seltsamer Lehrmeister“ (Usama Al Shamani/Bernadette Conrad), „Biestmilch“ (Kerstin Becker), „Draussen um diese Zeit“ (Ulrike Ulrich),, „Wer ist hier die Mutter“ (Alison Bechdel), „Rette dich, das Leben ruft“ (Boris Cyrulnik), „Extrem laut und unglaublich nah“ (Jonathan Safran Foer), „Die Vorbereitung des Romans“ (Roland Barthes), „Der starke Wanja“ (Otfried Preußler), „Aller Welt Freund“ (Jurek Becker), „Der Schwur von Kolvillag“ (Elie Wiesel)

Welchen Film hast du in letzter Zeit gesehen, der dir besonders gefallen hat?

„Hedi Schneider steckt fest“: toller Film über eine Frau, die eine Angststörung entwickelt.

Und warum?

Weil er viele Klischees umschifft, tragikomische Aspekte nutzt und nicht leugnet und mir nochmals eine neue, tiefere Sicht auf diese Erkrankung ermöglicht hat.

 

 

 

 

 

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